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Mai 2021

 "Groß werden" durch die Corona-Krise

 Eine Reflexion über die Entwicklung meiner eigenen Meinung als ein Vergleich mit dem Großwerden eines jeden Menschen...

Ich bin Mutter von drei kleinen Söhnen und habe in meinem Leben schon so viele Menschen begleitet, so viele Ausbildungen, Seminare und Kurse gemacht und Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen, dass ich eigentlich mehr „Stabilität“ von mir in einer Krise erwartet hätte. Wenn ich mir jedoch meine eigene Meinungsentwicklung von Mitte Februar bis jetzt, Mitte Mai, so ansehe, dann kommt mir das manchmal wie ein Schnelldurchlauf von menschlichen Entwicklungsstadien vor. Und ich vermute, es geht in dieser Zeit der Corona-Krise so manchen Menschen ähnlich.
Zuerst rutschen wir völlig unerwartet in Umstände, die wir uns nie hätten träumen lassen, und dann entkommen wir langsam der ersten Schockstarre, entfalten wir uns während dieser herausfordernden Zeit Stück für Stück und erkennen schlussendlich, dass uns das Leben gerade die Chance gibt, all das, was wir die ganzen Jahre über aufgenommen und gelernt und teilweise eher in uns bewegt haben, nun wirklich verstanden und genutzt und in die Tat umgesetzt werden darf. Und plötzlich ergibt eins ums andere mehr Sinn. Alles, was ich je gelernt habe, greift nun ineinander und wird unendlich wertvoll und hilfreich.

Als Mitte Februar die Schigebiete in Italien zum Risikogebiet erklärt wurden und die Überlegungen laut wurden, dass sich Freunde und Verwandte von uns, die dort im Schiurlaub waren, auf das Coronavirus testen lassen sollten, bevor sie sich mit uns treffen, da war meine Reaktion ein bisschen wie die eines kleinen Kindes, das keine Gefahr wahrhaben will, weil es seine gewohnten Spielpartner nicht verlieren will, oder das sich ohne großes Nachdenken den Eltern widersetzt – „Ich will aber jetzt keine Jacke anziehen, egal ob draußen Schnee liegt…“

Wenige Wochen später habe ich zwar verstanden, dass das „Jacke-Anziehen“ vielleicht gar nicht so falsch ist, aber ich habe immer noch – kindlich auf meine kleine, überschaubare Welt und meine akuten Bedürfnisse fixiert - gehofft, dass sich so manche unschöne Ankündigung meiner „Eltern“ in Luft auflöst: Händewaschen macht Sinn, aber ich wollte doch soooo gern im März nach Linz auf das Konzert fahren, das kann doch nicht so schlimm sein, bitte, bitte verhindert nicht mein Weihnachtsgeschenk…

Ich war schon lange überzeugt davon, dass Angst nie ein guter Ratgeber ist, und ließ mich nicht auf die immer mehr werdenden düsteren Vorhersagen ein. Mitte März bekam ich dann einen Artikel zugesandt, der mir sehr eindrücklich bewusst machte, dass es rein mathematisch betrachtet sehr wertvoll ist, wenn wir uns als Kleinfamilie möglichst stark isolieren, um das Gesundheitssystem nicht durch Unmengen an Infizierten und Schwerkranken zu überlasten. So wie ein Erstklässler völlig überzeugt davon ist, dass die Eltern (und die Lehrerin ;) ) eigentlich immer Recht haben, war ich überzeugt davon, dass diese mathematische Sichtweise auf die Gefährlichkeit des Virus‘ und dessen Ausbreitung zu 100% zutrifft. Genauso, wie ein Erstklässler kaum auf den Gedanken kommt, die Ansichten seiner Eltern zu hinterfragen, so hatten die Aussagen unserer Politiker und ihrer wissenschaftlichen Berater Hand und Fuß für mich, und das genügte. Ich engagierte mich im engeren Umfeld stark dafür, dass sich auch meine Freunde und Verwandten möglichst bald in die Selbstisolation begaben (noch Tage bevor die Schulen geschlossen wurden) und sich „rücksichtsvoll und mitdenkend“ verhielten, und wäre gar nicht auf die Idee gekommen, diese mir vorgegebene Sichtweise zu hinterfragen. Meine tief empfundene Sorge war echt und intensiv, aber ich fühlte mich gleichzeitig sicher, wenn wir als riesige Familie alle zusammenhielten, gemeinsam an einem Strang zogen und uns von unseren erfahrenen „Rudelführern“ durch diese Krise leiten ließen.

Wieder ein paar Wochen später fiel mir immer mehr auf, dass die Zahlen, die mir noch Mitte März solche Sicherheit in meinem Standpunkt gaben, irgendwie nicht so hinkamen wie prophezeit, und irgendwie mehr und mehr unstimmig schienen. Wie ein Heranwachsender erkannte ich, dass die „Eltern“ nicht immer Recht haben müssen, und mir dämmerte, dass die „großen Rudelführer“ auch Fehler machen können – aber Verständnis hatte ich dafür nicht. Empörung kam in mir auf, und ich recherchierte fleißig und fühlte jugendlichen Stolz, wenn ich meine Sichtweise bestätigt sah – Stolz auf meine Unabhängigkeit, auf mein Sich-Loslösen von meinen „Eltern“… Und schon rutschte ich mitten in richtig pubertäres Verhalten: Ich verhielt mich lauter als üblich, ich wollte gehört werden, ich suchte Bestätigung bei „Gleichaltrigen“ (Gleichgesinnten) … Ich fühlte mich den „Jüngeren“, die unseren „Eltern“ immer noch ohne Zweifel überallhin folgten und all ihre Äußerungen für die unangefochtene Wahrheit hielten, weit überlegen. Und gleichzeitig hatte ich den großen Drang zu rebellieren, zu zeigen, wie selbstständig, unabhängig und „weit“ ich doch schon war… und auch den tiefen Wunsch, so manchen „Jüngeren“ in meinem Umfeld doch auch zu meiner erkenntnisreichen Perspektive mitzunehmen. Gerade die Menschen, die mir etwas bedeuteten und am Herzen lagen, wollte ich nicht in der blockierenden, in meinen Augen ungesunden Angst versumpfen lassen.
Andere Meinungen stehen zu lassen fiel mir enorm schwer, hatte ich doch endlich die größeren Zusammenhänge erkannt und einen völlig neuen Blickwinkel auf meine „Eltern“ bekommen, bei dem ich mich nicht mehr klein fühlte, und bei meinen Gleichgesinnten fühlte ich mich bestätigt und genoss die Gemeinsamkeiten und die Einigkeit, das Gefühl der Dazugehörigkeit und der gemeinsamen Stärke.

Dann kamen Tage der Unsicherheit, als ich feststellte, dass auch unter meinen „Mitstudenten“ viele verschiedene Facetten unserer Grundmeinung  - also dass unsere „Eltern“ aktuell schwere Fehler machten und sehr viel weniger „Ahnung“ hatten als wir - existierten, und ich konnte bei einigen doch nicht mehr ganz mitgehen.
Ich erkannte, dass meine „Gleichaltrigen“ viele unterschiedliche Theorien glaubten und bewarben, die sich teilweise ergänzten, teilweise fast widersprachen… und wusste oft nicht mehr, wem ich nun eigentlich wirklich folgen sollte.
Meine Grunderkenntnis, dass auch „Eltern“ nicht allwissend und unfehlbar sind, und mein Verdacht, dass gerade ziemlich viel nicht so lief wie erwartet, blieben bestehen. Aber ich wusste nicht mehr sicher, welche Fakten, Theorien und Perspektiven mich nun überzeugten oder nicht, und ich verlor mich in der Vielfalt der zwischenmenschlichen Welt… und erkannte schließlich, dass ich den Halt und den Sinn, den ich so verzweifelt suchte, nicht dauerhaft stimmig aufgetischt bekommen würde, kein von außen vorgefertigtes Paket war restlos stimmig.

Also entwickelte ich den Wunsch, wirklich ganz selber zu denken. Ich vereinbarte mit mir selbst, dass ich für jede Meinung einer Person aus dem einen „Lager“ dann auch eine Meinung einer Person aus dem gegenteiligen „Lager“ hören musste, bevor ich eine der beiden übernehmen wollte. Ich beschloss, dass NIEMAND die Wahrheit mit Löffeln gefressen hatte und ich deshalb mindestens 10% und maximal 90% einer JEDEN Aussage als mögliche Detailwahrheit annehmen wollte. Indem ich mir nicht mehr erlaubte, eine Meinung zu 100% von mir zu schieben oder zu 100% als absolute Wahrheit anzunehmen, gelang mir eine gesunde Distanz zu fast allem, was mich erreichte. Das einseitige Hinterfragen wurde weniger, denn ich erkannte, dass viele Faktenchecks zu einem neuen Faktencheck des Faktenchecks führen konnten, und dass jede Studie und jede Analyse und jede Vorhersage immer abhängig von der jeweiligen Perspektive waren. Ich ahnte, dass ich nicht nur meinen Verstand, sondern auch meine Intuition und mein Bauchgefühl, einsetzen musste, um meinen Weg in diesem Dschungel an Angeboten von „Heranwachsenden“ finden zu können.

Jetzt bin ich seit einiger Zeit an einem Punkt angelangt, an dem ich mit Unterstützung des einen oder anderen „Mentors“ fast demütig versuche, endlich wirklich „erwachsen“ zu werden:

Ich erkenne, dass mein sogenanntes Bauchgefühl oft von Emotionen gesteuert wird. Ich lerne, dass Intuition hingegen etwas ist, was sich in Momenten großer innerer Ruhe einstellt. Ich lerne, diese Intuition zu beachten, bevor ich auf einen Link klicke, ein Video starte oder einen Artikel lese, und auch, bevor ich mich in eine Diskussion einschalte.

Ich begreife, dass die Kunst der Selbstberuhigung eine sehr wertvolle Fähigkeit in solchen Zeiten ist (und nicht nur da – wenn ich das z.B. bei den Geburten meiner Söhne schon so gekonnt hätte wie jetzt…!). Ich übe mich in innerer Achtsamkeit, um nicht so sehr von meinen Emotionen und Gefühlen unbewusst geleitet zu werden. Ich übe, immer wieder innezuhalten und zu beobachten, welche Gedanken und Gefühle in mir aufsteigen. Dieser innere Abstand beruhigt mich, und ich kann viel überlegter und klarer über das, was ich gerade gelesen oder gehört habe, nachdenken.

Und immer öfter erkenne ich, wenn meine hochschaukelnden Gefühle sich beruhigt haben, dass ich selbst besser zuhören kann, wenn ich innerlich ruhig bin, und dass ich selbst besser gehört werde, wenn ich innerlich ruhig bin.

Ich bemerke, dass ich selbst nur denen zugehört habe, die vielleicht nicht unbedingt der gleichen Meinung wie ich waren, aber doch zumindest „meinem Lager“ angehörten. Ich habe mich selbst für unglaublich offen und frei und unabhängig gehalten, und die anderen für blind und hörig, während wir doch beide eingeschränkt und blind für das Gesamtbild waren, eben weil wir mit dem Rücken zueinander standen und in völlig entgegengesetzte Richtungen schauten. Ich fange an, mich neugierig auch für den Teil der Welt zu interessieren, den ich so vehement abgelehnt habe, dem ich so überzeugt den Rücken zugekehrt hatte.

Ich erkenne es als wertvolles „Trainingslager“ für das „Erwachsenwerden“, mich täglich dadurch herauszufordern, indem ich wirklich versuche, die Welt durch die Perspektive eines Menschen zu sehen, der einen völlig anderen Blickwinkel hat.

Ich spüre neue Sicherheit, dass ich meinen Grundstandpunkt nicht mehr verlieren kann, dass mir meine Erkenntnisse und Erfahrungen niemand mehr nehmen kann, und auch meine neu erlernten Fähigkeiten der Selbstberuhigung und des zunehmend wirklich freien Selber-Denkens nie mehr verloren gehen können. Diese Sicherheit gibt mir den Mut, mich immer öfter richtig tief in Menschen hineinzuversetzen, die Meinungen und Überzeugungen haben, die den meinen absolut entgegengesetzt sind. Und weil ich mir plötzlich bewusst werde, dass ich so manchen Standpunkt in einer früheren Phase selbst auch mal geteilt habe, kann ich immer besser nachvollziehen, was derjenige wahrscheinlich fühlt und denkt.

Die Fähigkeit, mich in diese Menschen, die ich vor nicht allzu langer Zeit noch als reine Gegner betrachtet hatte, hineinzuversetzen, ermöglicht mir, zumindest ansatzweise Verständnis aufzubringen. Ich erkenne, dass Verständnis nichts mit Gutheißen zu tun hat, und dass es ungefährlich für meine Überzeugungen und meine Werte ist, für jemanden, der völlig anders denkt, fühlt und handelt als ich, Verständnis zu haben oder gar zu zeigen.

Gleichzeitig wird mir klar, dass der Druck, mit dem unsere „Eltern“ versuchen, ihre rebellierenden „Teenager“ in ihre Schranken zu weisen und zu kontrollieren, nur das Gegenteil erzeugt. Und ich fühle Enttäuschung, dass unsere „Eltern“ nicht erkennen, dass sie gerade zur Spaltung unserer Menschheitsfamilie massiv beitragen und sich selbst und uns alle damit in einen Gewaltstrudel treiben können. Auch hier darf ich mich loslösen von meiner kindlichen Erwartung, dass unsere Rudelführer immer wissen, wie sie unser Schiff durch stürmische See steuern. Ich versuche, mich wirklich unvoreingenommen hineinzuversetzen in ihre Lage, und verstehe: Auch die besten Rudelführer können, wenn sie unter enormen Belastungen stehen, die Orientierung verlieren – das ist menschlich und eigentlich kein Grund für Hass oder verzweifelte Ablehnung.

Ein „Heranwachsender“ ist oft noch überfordert damit, diese Tatsache auch in schwersten Zeiten anzunehmen und ihnen ihre Schwäche nachzusehen. Es kann ihm jedoch gelingen, wenn er sich seiner eigenen, immer noch kindlichen Erwartungshaltung bewusst wird – dass die „Eltern“ perfekt und fehlerfrei sind und ich ihnen blind vertrauen und mich durch sie führen lassen kann. Kurz kommt mein „innerer Teenager“ zu Wort und sagt trotzig: „Das tu' ich doch schon lange nicht mehr, ich hab schon lange erkannt, welchen Mist die bauen…“ Doch gleich kommt die Antwort hoch: Wenn wir diese Erwartungshaltung tatsächlich nicht mehr gehabt hätten, gäbe es keinen Grund für die Enttäuschung und Empörung, die in uns aufsteigen. Sie war also doch immer noch sehr aktiv in mir, diese Erwartungshaltung. Und so lasse ich sie los, und hoffe, dass ich irgendwann meinen Rudelführern und mir selbst dafür verzeihen kann. Wir sind alle eine große Menschheitsfamilie… Auch wenn mir immer noch der eine oder andere ein Spahn, äh Dorn im Auge ist, bei dem jedes Hineinversetzen in mir scheitert. Das wird noch einige Zeit lang so bleiben, und wenn das etwas über meine innere Entwicklung aussagt, dann sage ich liebevoll zu mir selbst:
Man muss steigerungsfähig bleiben ;)